"Zu Tisch, bitte"

Hinschauen oder Wegschauen?

 Der Mensch isst für sein Leben (gern). Dabei entscheidet er naturgemäß, was ihm schmeckt und was nicht. Wenn er die Wahl hat, wird Wohlschmeckendes wohl stets bevorzugt. In unserer Entgiftungs- und Seminarwoche in Soglio haben wir uns im April  neben vielen anderen Erfahrungen vor allem mit dem Vertrauen in die Praxis des Lebens beschäftigt – und dabei erstaunliche Parallelen zum Thema Nahrung, ihrer Auswahl und Aufnahme entdecken können.


Wir konnten erkennen, was es bedeutet, feinfühlig zu werden für die Momente, die uns das Leben serviert, mit seinen manchmal unerwarteten Rezepturen und Menü-Abfolgen; die Gabe zu entwickeln, auf der einen Seite Schmackhaftes wertzuschätzen, aber auch zu bemerken, welche Lektionen/Mahlzeiten uns (gerade jetzt) einfach nicht schmecken wollen.

Dazu bedarf es mehr als ein bloßes Hinschauen, mehr als ein im übertragenen Sinn zartes Hineinschmecken, es verlangt von uns vielmehr, mehr erfahren zu wollen und holistisch zu wachsen, um darüber zu einem echten Verstehen zu kommen. Das verlangt Hingabe und ist meist mit einem prozesshaften Verlauf verknüpft, bei dem uns das eine Mal der Honigtopf vor die Nase gestellt, das andere Mal ein wahrer Schlangenfraß serviert wird. Und auch wenn wir uns beides nicht bewusst ausgesucht haben, will beides goutiert werden, um sich in die Tiefe des Lebens hineinzubegeben. Wer daran nicht interessiert ist, bleibt an der Oberfläche, die meist hübsch dekoriert, aber oft auch nichts weiter als ein täuschendes Schaumgebilde ist.

Den ganzen Geschmack des Lebens in seiner Fülle wahrzunehmen, bedeutet jedoch, sich alles, was das Leben für uns bereithält, auf der Zunge zergehen zu lassen: das Angenehme wie das Unangenehme, das Schmackhafte wie auch das Nicht-schmackhafte.

Dabei können wir diese beiden in uns angelegten Pole erfahren: „Geh an den Ort der größten Anziehung, aber auch an den Ort der größten Ablehnung, des größten Widerstandes!“ Erfahrungsgemäß passiert dann meist dies: Wir tun weder das eine noch das andere, und schon gar nicht wollen wir uns vorstellen, dass beide Pole für unsere Entwicklung gleichberechtigt und gleich wichtig sind. Dort, wo die größte Anziehung herrscht, dorthin wenden wir uns zwar gerne – allerdings häufig, ohne uns wirklich in aller Konsequenz damit zu verbinden; aus der Befürchtung heraus, unsere Komfortzone und damit Gewohntes verlassen, Neues (und noch Unbekanntes) erfahren zu müssen. Von dort hingegen, wo die größte Ablehnung liegt, wenden wir uns gerne ab und meiden mit allerlei Tricks und Kniffen die Konfrontation.

Das, was sich da vor uns auftut, ist „das Feld der Resonanzen“. Es umschließt all das, was uns nicht kalt lässt, wo es uns heiß wird, wo etwas in Bewegung kommt, und wo uns etwas schon im ersten Moment  „trifft“. Das geschieht im sogenannten Positiven (die Anziehung) wie im Negativen (die Ablehnung). „Treffen“ tut uns beides in diesem weiten Feld. Das daraufhin ins Schwingen kommen …

Im hellen Zustand – also im Pol der größten Anziehung – entsteht energetische Resonanz, ein Gleichschwingen, als ob zwei Musikinstrumente aufeinander eingestimmt sind. Da gibt es einen Teil in uns, der davon profitieren kann: Wenn wir beispielsweise auf einen Menschen treffen, der in einer Entwicklungslinie weiter fortgeschritten ist, die auch in uns als größeres Potential angelegt ist, ist es oftmals sehr gut und unterstützend, wenn wir mit diesem Menschen tiefer in Kontakt kommen. Die Resonanz, die er auslöst, regt Nervenenden im Gehirn und im Körper an, selbst schöpferisch zu werden. Das heißt, es handelt sich stets um ein Potenzial in einem selbst, einen Möglichkeitsraum, der durch diese Begegnung angeregt und damit verstärkt realisiert wird. Es geht noch nicht um etwas, das bereits existiert und dann „nur“ schwingt, sondern um etwas, das Raum hat für mehr, und dieses Mehr gelangt durch die Anregung/Anziehung in die eigene Wahrnehmung hinein. Dieser angeregte Zustand ist die beste Form des Lernens. Wenn wir in diesem angeregten, kreativen Zustand sind, dann ist die Übertragung von höherem Wissen aus dieser Ebene, aus dieser höheren Fertigkeit nur natürlich. Sie fällt dann auf einen sehr fruchtbaren Boden. Das, was wir scheinbar von außen bekommen, regt also unsere eigene Evolution an, in die wir hineinwachsen können. Man lädt sich sozusagen die eigene neue Version von sich selbst herunter!

Unser Körper-Geist-System ist ein Radar für Energie und Resonanz.

Wenn etwas gut ist und uns anzieht, weil es mit uns zu tun hat, dann melden sich die Sensoren. Wacher werden in der eigenen Wahrnehmung heißt, hier genau zu schauen, worauf unser Sensor ausschlägt. Dieser Radar in unserem Körper-Geist-System weist aber genauso auf den dunklen Pol, den der größten Ablehnung, hin: „Geh dorthin, wo Du eine starke Abneigung spürst!“ Dorthin gehen, wo uns Dinge, Situationen oder Menschen abstoßen und abschrecken, wo ein starker Widerstand fühlbar wird und eine Abwehrreaktion erfolgt. Der Teil in uns, der „Oha!“ sagt, unterliegt dem gleichen Radar wie der größter Punkt der Anziehung – mit umgekehrten Vorzeichen, im Schatten verborgen. Wenn nun also Leute, Dinge oder Situationen unsere Leinwand queren, mit denen wir überhaupt nichts zu tun haben wollen, wo wir den Blick abwenden möchten, dann sind gerade das die Leute, Dinge oder Situationen, mit denen wir uns auf jeden Fall auseinandersetzen sollten. Denn sie treffen einen Teil in uns, den wir ablehnen. Und es ist wichtig herauszufinden, was wir konkret ablehnen, um zu einem vollen Verständnis unserer selbst zu kommen. Erst dann erfahren wir auch, was unsere Energie im negativen Sinn gefangen hält. Es geht also weniger um das, was uns hier begegnet, sondern vielmehr um die Energie, die in uns gebunden ist und so eine starke Ablehnung/Widerstand schafft.

In diesem Prozess reift die Erkenntnis: Sich zum Kontakt zu zwingen und dann zu warten, dass man sich aus dieser ungeliebten oder unbefriedigenden Situation möglichst schnell und ohne Erkenntniszuwachs wieder herauswinden kann, das ist nicht der richtige Weg. Es geht vielmehr darum, genau hinzuschauen, entweder in direktem Kontakt mit der Person oder der Situation oder in Kontakt mit jemandem, der dazu eine höhere Klarheit besitzt. In der Fachsprache wird dies als Supervision bezeichnet. Es geht darum zu reflektieren, was genau ich an diesem Menschen oder der Handlung in mir so ablehne. Und dass diese Erfahrung einen gleich wichtigen Impuls des Hinschauens beinhaltet, wie dies auch beim Pol der größten Anziehung der Fall ist. Konkret: Man akzeptiert zunächst einmal die Ablehnung. Diese räsoniert mit einem tieferen Schattenaspekt des eigenen Selbst. Und weil er eben ein Schattenaspekt ist, sieht man ihn typischerweise bei sich selbst am wenigsten. Aber man weiß zumindest jetzt: Im Außen gibt es Anzeichen dafür, dass da ein Schatten in mir ist. Auch wenn das dann leider noch nicht heißt, dass man ihn auch aufgedeckt hat. Dafür gibt es wiederum zwei Möglichkeiten: In einer Interaktion entlarvt man den Schatten selbst (das setzt allerdings voraus, dass man sehr gut im „Hinterhergehen“ des eigenen Schattens sein müsste) oder man schaut ihn sich gemeinsam mit einer dritten Person an. In einem ersten Schritt funktioniert es häufig bereits, sich die einfache Frage zu stellen: Was genau ist es und von welcher Qualität ist es, das mich an diesem Menschen, dieser Sache oder dieser Handlung abstößt? Und sich dann darauf eine ehrliche Antwort zu geben, die den Teil ans Licht holt, der bisher im Schatten gelegen hat.

Was passiert darüber hinaus an den beiden Polen der Anziehung und der Ablehnung? An beiden können wir ein „Urteil“ entstehen lassen. Auch hier ist der eine Pol, der uns zu einem Urteil kommen lässt, nicht besser oder schlechter als der andere. Es ist lediglich ein „Urteil“. In beiden Fällen gilt es zu erkennen, dass gerade ein beurteilender Teil meiner Psyche anspringt: „Feind erkannt, Feind gebannt …!“ Damit kann man versuchen, dem Urteil so bewusst zu begegnen, dass man nicht in ihm gefangen bleibt, sondern trotz allem immer noch wirklich hinschaut: Wer oder was ist da, was mich (be-)urteilen lässt? Wichtig ist, sich genau mit dem verbinden, was gerade da ist, und nicht mit dem, was man meint zu sehen oder nicht zu sehen. Vielleicht hilft die Regel: Man kann zwar nicht verhindern, dass man urteilt. Sollte man vielleicht auch gar nicht.  Aber man kann den Prozess des Urteilens anschauen und sagen: Hier taucht wieder ein Urteil auf, um dann zu versuchen, durch dieses Urteil quasi hindurch- und einmal dahinter zu schauen. Zugegeben, keine leichte Übung bzw. Kost! Um den Prozess des Beurteilens zu verhindern, müsste man sich von der momentan aufsteigenden Wahrhaftigkeit wieder entfernen und sich zwingen, diesen Moment gar nicht erst entstehen zu lassen. Wenn man jedoch das Urteilen in dem einen Moment einfach nur ablaufen lässt und sich dessen bewusst ist, dann ist man nicht mehr ausschließlich in der Anziehung oder Ablehnung. Dann eröffnet sich die Freiheit, in die Situation einzusteigen und sie beweglich zu halten, die Dinge zu erkennen und wieder gehen zu lassen.

Klar ist, dass Sätze wie „Konfrontiere auch das, was du gerade ablehnst“ bzw. „Gehe dahin, wo du die größte Ablehnung verspürst!“ eine Kettenreaktion von Prozessen und Emotionen auslösen. Wenn wir aber das Potential darin erkennen und uns von Kategorien wie positiv und negativ, Anziehung und Ablehnung, „schmeckt mir“ und „schmeckt mir nicht“ lösen, dann eröffnet sich die Möglichkeit, über das hinauszuwachsen, was wir gerade jetzt sind und unser Bewusstsein auf eine neue Stufe der Einheit mit uns selbst zu heben, in dem Licht und Dunkel zusammengehören. Gelingt es uns nicht, dem Licht und dem Schatten selbst auf die Spur zu kommen, dann haben wir immer noch die Möglichkeit, dies mithilfe anderer zu tun. Denn der Entdeckung folgt zwangsläufig die Bearbeitung, wenn wir uns vom Grunde unseres Herzens aus wünschen, ganzer und freier zu werden und unser Leben im echten Einklang mit uns und unserer Umgebung zu gestalten. Die Aufgabe lautet dann: Die Auseinandersetzung mit meinen Polen hat mir etwas Wertvolles offenbart, aber nun muss ich mich auch verantwortlich darum kümmern.

Sowohl als auch. Im Hellen und im Dunkeln. Im Hier und Jetzt. Mit Vanilleeis und Lebertran.

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